Kinder, wie die Zeit vergeht…

4. Juni 2021. Ich sitze im neuen Panorama-Café der Norröna-Fähre von Island nach Dänemark. Ich bin auf dem Weg nach Deutschland, um dort meine Mietwohnung aufzulösen, die ich immer noch in Berlin habe. Es ist an der Zeit, das Leben etwas zu vereinfachen und zu konzentrieren…

Während ich auf das sehr ruhige Meer hinausschaue, lasse ich die Gedanken noch einmal zurückwandern durch die letzten Monate. Unglaublich dicht waren sie, ungeheuer spannend und angespannt, und doch zugleich relativ ereignisarm. Diese letzten neun Monate waren ganz und gar geprägt von meiner Ausbildung an der Isländischen Tourismusschule (Leiðsöguskólinn Íslands í MK). In den ersten Monaten war ich völlig überfordert, verstand inhaltlich nur sehr wenig wegen der vielen Fremdwörter, und kam auch beim Hören nicht hinterher, wegen der schnellen oder verwaschenen Aussprache von Dozenten und Mitschülern. Die Ausbildung war voll von grossen Prüfungen, und bis Weihnachten gab es so gut wie gar kein Privatleben. Mein Fazit ist, dass es absolut nicht empfehlenswert ist für jemanden mit nicht isländischer Muttersprache, das volle Studium neben einer vollen Arbeitsstelle zu absolvieren. Es ist möglich, kostet aber unfassbar viel Kraft. Ich sass in jeder freien Minute an den Dokumenten, versuchte alles zu übersetzen und zu verstehen, immer gleichzeitig drei bis vier Wörterbücher online offen, die mich aber alle regelmässig im Stich liessen. Es war harte, disziplinierte Arbeit. Erstaunlicherweise habe ich in den meisten Fächern gut bis sehr gut abgeschnitten und oft sogar sehr viel besser als meine Mit-Studierenden, obwohl alles auf Isländisch zu schreiben war (eine Mischung aus Multipe Choice, Definitionen und Aufsätzen). 

Gelernt habe ich wirklich viel. Von Pflanzen- und Tierkunde über Geschichte, Literatur, Kunst, Geologie, Isländische Gesellschaft, Wirtschaft, Erste Hilfe war alles dabei. Im zweiten Semester wurde der Unterricht sehr praxisrelevant: Nacheinander wurden alle Landesteile durchgenommen und alles Wissenswerte gelernt. Auch in der Geologie ging es nun nicht mehr um allgemeine Phänomene, sondern war an die konkreten Landschaften gekoppelt. Nordlichter, Sterne, Wetter, isländische Sagas, Tricks & Tipps aller Art gehörten ebenfalls dazu. Hin und wieder habe ich mich tatsächlich gefragt, wie ich ohne all das viele neue Wissen, das ich mir inzwischen angeeignet habe, jemals interessante Reiseleitung machen konnte! Und doch, ich denke dass es durchaus immer interessant und spannend war.

Meine Klasse auf der Abschlussfahrt – im Hintergrund Akureyri

Das Jahr war natürlich sehr speziell. Gerade als wir zu Studienbeginn begannen, die ersten in der Studiengruppe kennenzulernen, gab es eine neue Covid-Welle und wir mussten komplett auf Online-Unterricht umstellen. Real treffen konnten wir uns nur zu den Prüfungen, mit Maske und angespannt. Das Kennenlernen begann sehr zögerlich erst im zweiten Semester. So richtig in Gang kam es aber erst, als wir verschiedene Tages- und Wochenend-Fahrten durchs Land machten. Es gibt jede Menge Übungsfahrten, die wir komplett vorbereiten mussten, um dann zufällig für einen oder mehrere Abschnitte der Tour ausgewählt zu werden. Diese Fahrten waren zwar sehr zeitintensiv in der Vorbereitung, aber die Touren selbst machten viel Freude. Mir fiel das Guiden im Bus dank meiner Erfahrung sehr leicht, ausserdem fand es in der Wahl-Sprache statt – für die Isländer auf Englisch, für mich und einen Mitstudenten auf deutsch 🙂 Einige der Fahrten waren dann auch Prüfungsfahrten, die wurden jeweils aufgenommen und von den Sprachlehrern bewertet. Die grosse Abschlussfahrt in fünf Tagen um Island fand dann komplett auf isländisch statt. Als ich erklärte, wie das Felsenlabyrinth Dimmuborgir entstand und etliche Isländer erleichtert waren, das endlich und zum ersten Mal verstanden zu haben, war ich mächtig stolz 🙂 Diese Fahrt hat uns sehr zusammengeschweisst und Freundschaften für´s Leben entstehen lassen. Vielleicht gerade wegen der insgesamt eingeschränkten Möglichkeiten sind wir zu einer unzertrennlichen Gemeinschaft zusammengewachsen, haben uns alle von Herzen gern und haben schon Pläne für regelmässige Treffen geschmiedet. Was für ein Schatz diese Gemeinschaft ist! Und wie dankbar ich bin für Unmengen von neuem Wissen.

Nun liegt der Schulabschluss schon eine Woche zurück, und ich war unfassbar überrascht, dass ich als Klassenbeste ausgezeichnet wurde. Ich, als Ausländerin, und mit voller Arbeitsstelle (während eine ganze Reihe die Ausbildung in der Arbeitslosigkeit oder mit halber Stelle gemacht haben)! Ich bin wirklich stolz darauf!

Und sehr dankbar.

Ansonsten passierte in der Tat nicht viel. Das intensive Lernen neben der Arbeit hatte den positiven Effekt, dass mir all die Einschränkungen, die die dritte und heftige Covid-Welle ab Oktober mit sich brachte, gar nicht so richtig zu spüren bekam, denn ich sass ohnehin meistens daheim.

Weihnachten und Silvester habe ich mit meinen lieben Freunden verbracht, die nur ein paar Minuten von mir entfernt wohnen. Ansonsten hab ich die meiste Zeit im Bett verbracht, so erschöpft war ich nach dem ersten Semester. Wahrscheinlich war ich wegen der Erschöpfung auch relativ anfällig für Krankheitskeime – trotz Masken und Desinfektion bekam ich Ende März eine Lungenentzündung, die mich vier Wochen lang im Griff hielt, und kurz vor Schulabschluss nochmal eine heftige eitrige Mandelentzündung… Immerhin konnte ich so mein Schlafdefizit wieder ausgleichen… 

Die Arbeit im Kindergarten ist nach wie vor herausfordernd. Ich arbeite noch immer als Sonderpädagogin, fünf Stunden mit einem Kind und je eine bzw. anderthalb Stunden mit zwei weiteren Kindern. Teils direkt in der Gruppe, teils in Einzelförderung. Ich werde sehr unterstützt von meiner Vorgesetzten und der Kindergartenleiterin, und sie sind hoch zufrieden mit meiner Arbeit.

Es ist natürlich frustrierend, für einen sehr geringen Lohn arbeiten zu müssen, weil ich in Island nicht anerkannt bin mit meiner Ausbildung als Heilpädagogin (HP).

Deshalb habe ich mich nun im Herbst an der Universität Islands eingeschrieben, um den Bachelor als HP in Angriff zu nehmen. 150 von 180 nötigen Einheiten werden mir anerkannt dafür, sodass ich nur drei Fächer belegen muss. Ich hoffe, dass ich das in zwei Semestern schaffe – im Fernstudium, d.h. ich brauche nur wenige Präsenzveranstaltungen und kann alles andere digital und zeitversetzt nutzen, so wie es mir passt. Von meinen Vorgesetzten werde ich sehr dabei unterstützt. Für die volle Anerkennung müsste ich dann noch den Master drauf setzen. Aber eins nach dem anderen. Schon mit dem BA-Abschluss stehe ich sehr viel besser da und kann mich auch flexibler bewerben. Meine Stelle im Kindergarten wurde verlängert bis zum Frühjahr. Jetzt habe ich Urlaub und kann anschliessend unbezahlten Urlaub nehmen, um die Sommerzeit in Deutschland verbringen zu können. 

Der Tourismus in Island läuft sehr zögerlich an. Vor allem kommen Individual-Urlauber, für Reisen im Bus ist es eher noch zu früh. Ich bin froh, dass ich diese Zeit gut genutzt habe.

Nun bin ich in Deutschland angekommen und gewöhne mich zögerlich an die grosse Hitze (während in Island eisige Temperaturen und Schnee im Juni herrschen!!!). In den nächsten zweieinhalb Monaten werde ich vor allem sortieren, weggeben, verschenken. Ich hoffe, dass alles klappen wird mit dem Auflösen meiner Wohnung. Vor allem aber freue mich auf viele gute Begegnungen und hoffe auf eine schöne Zeit ❤

Kinder, wie die Zeit vergeht…

19 Gedanken zu “Kinder, wie die Zeit vergeht…

  1. Peter Jörgensen schreibt:

    Liebe Kerstin,

    danke für den spannenden Bericht. Ich bin ganz gerührt vor Bewunderung, wie Du das alles machst. Sehr! beeindruckend! Von Herzen wünsche ich Dir weiterhin Kraft, aber auch eine tiefe Freude am Leben und Deinen Wegen. Es ist ein sehr besonderer Weg, den Du gehst, der Ausstrahlung hat, Du hast sie, diese Ausstrahlung. Segen Dir!

    Herzliche Grüße Peter

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  2. Brava Kerstin! 🙂
    So schoen von dir zu hoeren und dann noch so gute Neuigkeiten.
    Viel Spass in Deutschland und anschliessend mit einem ganz neuem Gefuehl nach Island ohne zwischen zwei Welten zu stehen. ❤
    Viele Gruesse aus Kanada,
    Luisa

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  3. Elke Dusa schreibt:

    Hallo, liebe Kerstin! Ich freue mich so sehr, wieder etwas von dir zu hören.
    Toll was du wieder geschafft hast! Einfach bewundernswert! Ich arbeite nicht mehr (Rentner), habe mir eine kleinere Wohnung gesucht und versuche, die viele Zeit sinnvoll zu nutzen. Trotz Corona. Bin geimpft und hoffe, daß eine geplante Reise ab 8.7. nach Island stattfindet… Und du bist dann bestimmt noch in Deutschland.
    Ich bin die Elke von 2017 , die Reise mit dem Beinbruch. Und Island läßt mich nicht los…
    Ich wünsche dir weiter so viel Energie und Gesundheit!
    Ist die Handynummer von 2017 noch gültig?
    Liebe Grüße! Elke

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  4. andyschmetterling schreibt:

    wow, herzlichen Glückwunsch für diese tolle Leistung und alles Gute für deinen weiteren Weg, so fügt sich eins zum anderen, immer Schritt für Schritt! Freue mich auf den nächsten Bericht, liebe Grüße Andrea

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  5. Liebe Elke, ich habe nicht vergessen, wer du bist 😉 Wir too dass du noch einmal eine Island-Reise unternimmst. Ja, leider bin ich dann noch in Deutschland, aber meine Handynummern haben sich nicht geändert.
    Vielen Dank für deine Gratulation und die guten Wünsche. Geniesse Island und hab es gut. Alles Liebe!

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  6. Peter schreibt:

    Hallo Kerstin,
    ich finde es echt bewundernswert, wie Du die isländischen „Hürden“ nimmst. Freue mich immer wieder, wenn ein Update von Dir kommt. Für die nächsten „Hürden“ wünsche ich Dir alles Gute.
    Du schaffst das! 🙂 Herzliche Grüße aus Leipzig, der Peter

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  7. Hallo Kerstin,
    ich freue mich riesig über Dein mehr als gutes Abschneiden in der Ausbildung und bewundere Deinen Mut mit dem Du Deine Kraft für immer neue Herausforderungen einsetzt. Schön, dass das mit Erfolg gekrönt wird. Bei der Beschreibung von Krankheitszeiten wird dann Sorge wach, aber ich weiß, dass Du gut auf Dich aufpasst. Gute, erholsame Zeit in Berlin und wenig blöde Sachen beim Wohnungsauflösen wünsche ich Dir!
    Gruß Kay

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  8. Danke lieber Kay 😃 Und ja, ich passe gut auf. Das Jahr war extrem grenzwertig und ich hatte tatsächlich diverse Sorge, aber mit der nötigen Achtsamkeit ging es gut. Im Frühjahr waren dann einfach zu viele Viren im Umlauf, mein Besuch beim Vulkan bei minus acht Grad und steilem Weg dorthin hatte mich bestimmt auch empfindlich gemacht, und die Müdigkeit durch das Studium tat sein Übriges. Jetzt bin ich wieder fit und kämpfe allenfalls mit dem heissen Wetter 🥵 Alles Liebe dir auch!

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  9. Dietmar Zacher schreibt:

    Hallo Kerstin, ich bin gerade erst nach dem Urlaub dazu gekommen, deinen ausführlichen Bericht zu lesen. Und zu staunen. Du machst echt viel. Und nun Berlin -und damit vermutlich auch Deutschland- endgültig oder zumindest mittelfristig verlassen.
    Alles klingt super. Außer dass mit der momentanen Bezahlung.
    Ich freue mich über deine weiteren Berichte aus dem schönen kalten Island.
    Bist du dort eigentlich gemeindlich iwie eingebunden? Den Chor erwähntest du in früheren Briefen.
    So, heute hat Cora Geburtstag und wir sind nach der Arbeit beim Chinesen. Ich muss morgen wieder ran.
    LG aus der alten Heimat, sei gesegnet, Dietmar

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  10. Danke Didi. Ich bin in einem Kirchenchor, aber wegen Covid und Studium lag das komplett brach. Ansonsten bin ich digital im Wedding eingebunden 😉 Ansonsten operiere ich nicht mit Kategorien wie “endgültig”, denn wer weiss schon, was kommt… Aber für den Moment ist Island der Platz an dem ich zu Hause bin 😊

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  11. Esther Kodoll schreibt:

    Liebe Kerstin, ich staune über all das, was du schaffst. Großartig! So diszipliniert, mit so viel Neugierde und Mut auf Veränderungen. Super!
    Alles Liebe für dich!
    Mit liebsten Grüßen aus Stadthagen

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